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Veröffentlicht am 02.04.2014

Treppen
(Erinnerungen an die Körliner Schule 2011; heute Schule in Karlino Westpolen;
 Beitrag ins Polnische übersetzt für die Schulchronik)

In diese Schule führen Treppen. Von der Straße und vom Hof geht es mit Treppen aufwärts hinein.
Für eine Schule ist das zwar nicht ganz praktisch aber symbolisch:
Immer aufwärts geht es hier von der ersten Klasse an und immer weiter.
Als ich vor etwa 68 Jahren auf der Treppe an der Straßenseite saß, gehörte ich eigentlich noch gar
nicht zu den Treppensteigern. Mit meinem Alter von fünf Jahren befand ich mich noch außen vor.
Meine Mutter musste zum Arzt. Der Arzt arbeitete in der Schule. Teile der Schule dienten damals
schon als Krankenhaus und Lazarett.
„Du bleibst hier (auf der untersten Treppenstufe vor der Schule) und rührst dich nicht vom Fleck!“
Da saß ich also noch nicht zugehörig. Nicht lange währte es. Mädchen und Jungen einer ganz hohen
Stufe kamen vorbei. Sie umringten mich. Sie nahmen mich an die Hand und bald gehörte ich zu
ihnen, schwebend auf ganz hoher Ebene.
In den Klassenraum nahmen sie mich mit. Ganz vorne in der ersten Reihe zwischen zwei großen
Jungen saß ich; stolz. Der Lehrer (es war mein Großvater) bemerkte mich nicht.
Wenn man sich in eine Stufe eingeschlichen hat, in die man noch nicht gehört, wird es mit der Zeit
aber langweilig. Von dem Vorgetragenen verstand ich rein gar nichts. Ich nahm meine Bildung in
die eigene Hand. Es gab auch viel zu entdecken.
Die Schülerinnen und Schüler saßen damals zu zweit auf Schulbänken mit fest angebauten Tischen.
Der Tisch war zu der Bank geneigt mit einer schmalen geraden Fläche. In dieser geraden Fläche
steckten in extra dafür vorgesehenen Löchern Tintenfässer, abgedeckt durch Metallklappen, von
denen die meisten aber schon abmontiert waren. Für solch ein Tintenfass hinter mir in der zweiten
Reihe interessierte ich mich sofort. Beim Versuch ein Tintenfass aus dem Loch hervor zuholen,
musste ich leider feststellen, dass es gar keine Standfläche hatte. Es kippte natürlich sofort um und
ein schwarzblaues Rinnsal goss sich über den Tisch.. In der zweiten Reihe hinter mir saßen große
Mädchen, die sofort versuchten das Rinnsal mit Löschpapier zu stoppen. Ich half mit den Händen
nach. Erst jetzt wurde der Lehrer auf mich, vor allen Dingen auf meine missliche Lage aufmerksam.
Mit hoch erhobenen Händen, um ja nichts zu berühren wurde ich am Pult vorbei zur Tür geführt,
begleitet von: „Du Ferkel, du Ferrrkelll!“ Ich glaube mit einem Lineal wurde auch noch mein
Rücken tuchiert. Ein großer Junge führte mich zu den Toiletten.
Meine Mutter hatte mich inzwischen schon gesucht; draußen und drinnen. Ein Glück, „Du
Ferrrkell!“ war nicht zu überhören und wegweisend. Unter laufendem Wasser wurden die Hände
abgespült. Der blaue Ton hielt sich jedoch noch lange. Meine Mutter ging hinter mir auf dem
Heimweg immer noch sprachlos und auf Abstand, damit ich ja nicht ihr Kostüm berühren konnte.
Sie brachte mich wieder nach hause und auf die mir gebührende Ebene zurück.
Von der Hofseite führen auch Treppen in die Schule. Gleich hinter dem Hofeingang führt eine
ziemlich steile Treppe, mit heute immer noch gelb-ocker angemalten Trittstufen in das Treppenhaus.
Diese Farbe - gelb-ocker - fördert aus der Tiefe von 66 Jahren eine Erinnerung hervor:
Wir, Schüler der ersten Klasse steigen diese Treppe empor.
Wir schrieben damals in der ersten Klasse auf Schiefertafeln. An der Schiefertafel hingen an einem
Bindfaden ein nasser Schwamm und ein Trockentuch. Damit durch den Schwamm nicht die Fibel
im Innern des Schulranzens nass wurde, hing beides seitwärts außen am Ranzen herunter.
Nur die Erstklässler mussten so laufen, denn in der zweiten Klasse wurde schon mit Tinte
geschrieben. Damit zeigte Schwamm und Trockentuch außen am Ranzen auf welcher erbärmlich
niedrigen Lebensstufe wir uns befanden.
„Steck deinen Schwamm auch in den Ranzen, dann sind wir in der zweiten Klasse!“ wurde mir zu
geraunt; auf dieser Treppe. Das Trockentuch befand sich übrigens auch bei meinem Schulranzen
schon längst innen.
Wenn ich mich weiter erinnere, sehe ich auf der Treppe außen zum Hof Lehrer dort stehen.
Zu ihnen brachten wir Altmetall, das auf Dachböden oder in Kellern herum gelegen hatte. Alle
Schulkinder waren zu dieser Sammlung aufgefordert.
Mit geschlossenen Augen wurde von den Lehrern das Gewicht der Fundstücke geschätzt. Danach
wurden Punkte in eine handgeschriebene Karte eingetragen.
Die Punkte wurden nie ausgewertet, denn kurz danach wurde die Schule Lazarett. Der Unterricht
fiel aus.
Nahezu eineinhalb Jahre lang ging ich nicht mehr zur Schule.
Lange 66 Jahre liegen dazwischen bis ich sie wieder sah; die Trinkwanne.
In dieser Trinkwanne befanden sich Bügel zum drücken, wodurch ein kleiner Springbrunnen
sprudelte. Diesen Trinkbrunnen hatte jemand erfunden, der niemals Durst hatte. Jedenfalls hat er
wohl diese Sprudler nie ausprobiert, denn öffnete man den Mund, um das sprudelnde Wasser
aufzufangen, lief es gleich wieder zurück, schloss man den Mund, wurde man naßgespritzt. Es
gehörte schon ein ziemliches Geschick dazu, mit verdrehtem Kopf etwas Wasser aufzufangen. Ich
habe auch nie jemand daraus ernsthaft trinken gesehen. Zum Unfug waren die Sprudler aber
hervorragend geeignet, um davon kreischenden Mädchen hinterher zu spritzen.
Dass diese Wanne immer noch vorhanden ist, ja dass man überlegt, sie zu erhalten, zu erneuern,
obwohl man offensichtlich nicht so recht weiß, wofür sie einmal gedient hatte, gibt mir nach 66
Jahren ein Gefühl der Verbundenheit.
Ich fühle meine Vergangenheit mit allem auch Ungereimtheiten angenommen; für eine echte
Zukunft.