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Veröffentlicht am 02.04.2014

Der Bärenschinken

Die Personen, die geschildert werden, leben in der Vorstellung und haben mit tatsächlich existierenden
Menschen soviel gemein wie der Bildhauerton mit einer Skulptur (aus Uwe Teellkamp – Der Turm.)

„Schließt Eure Fibeln. Steckt sie in Eure Schulranzen. Morgen kommt ihr um
neun Uhr!“
Also, es geht so los, wie in vielen Romanen;
an den Fensterkreuzen blätterte die weiße Farbe. Die strahlende Sonne spielte
auf den grauen Masern des Holzes und den weißen Flächen der noch haftenden
Farbe.
In einer Gaststube, in der noch der Geruch vergossenen Bieres dünstete, hatte
man die Stühle und Tische in Reihen aufgestellt, wie in einer Schulklasse.
Die Lehrerin saß noch schicksalsergeben vor der ehemaligen Ausschanktheke.
Der Gasthof genannt Stern diente als Notschule, weil das eigentliche
Schulgebäude Krankenhaus, Lazarett für verwundete Soldaten geworden war.
Martins Gedanken schweiften wie so oft auch jetzt in eine undeutliche Ferne.
Sie kehrten aber zurück als er merkte, dass die Lehrerin sich von ihrem Stuhl
erhob, dass eine erwartungsvolle Unruhe in dem Raum sich einstellte und das
schon lang ersehnte „Morgen wieder um elf Uhr hier in diesem Raum!“ etwas,
ach ja den Unterricht, die Schule beendete.
Beim Raus drängeln mischte sich der Geruch von verschüttetem Bier, der sich
schon mit dem ewige Schulgeruch nach Apfel- und Käsebrot gemischt hatte,
mit dem herausfordernden Duft der strahlenden Spätherbstsonne.
Hin und wieder leistete sich Martin, allen Ermahnungen zum Trotz, nach der
Schule einen kleinen Umweg. Der Reiz dieses Weges lag schon darin, dass er
es eigentlich nicht durfte.
“Nach der Schule kommst Du immer, ich sage immer, sofort nach Hause!“
wiederholte seine Mutter mit einhämmernden Nachdruck fast täglich.
Warum das so sein sollte, hatte sie wohl auch einmal hinzugefügt, aber dass
hatte Martin längst wieder vergessen.
Ohne „warum“ gelingt es nicht immer den Versuchungen des Also doch zu
widerstehen, insbesondere an einem solchen Tag.
Hinter dem altem Friedhof, auf dem nur noch hin- und wieder ein alter
Grabstein vor sich hin wartete, worauf eigentlich, konnte man die Hauptstraße
überqueren. Auf der anderen Seite der Straße ging es abwärts in ein breites
Flusstal.
Wenn Schnee lag konnte man an diesem Hang rodeln. Die Fahrt ging tollkühn
bis auf das Eis der überschwemmten Wiesen auf dem manchmal auch schon
etwas Wasser stand.
Am straßenseitigen Hang lag ein Eiskeller. Man sah eigentlich nur einen alten
Schuppen, in dem Ackergeräte standen, aber in dem Schuppen gab es mit
eisernen Platten abgedeckte Löcher, durch die Eis im Winter in die Erde in
unterirdische Gewölbe geschüttet wurde. Dort kühlte es das Bier einer kleinen
Brauerei in de Nähe. Das Eis wurde in großen Blöcken von einem kleinen
Teich neben dem Fluss geholt. Es wurde mit Haken an Land gezogen.
Zwischen dem Teich und dem Fluss gabelte sich der Weg. Auf dem Weg

zwischen dem Hang und dem Teich versank man im Morast, manchmal stand
hier auch das Wasser. Martin hatte diesen Weg noch nie durchwatet. Aber der
andere schlängelte sich schmal zwischen Teich und Fluss.
An diesem Weg, wie eine Parkpromenade gepflegt, standen im Abstand jeweils
eine Bank.
Auf der einen Bank hatte sich einmal ein Pärchen geknutscht. Martin hatte es
genau von weitem gesehen. Als er vorbeiging saßen beide ganz gerade und
ruhig da. Die Frau verkaufte manchmal Karten im Bahnhof. Den Mann kannte
Martin nicht.
Martin schlenderte nun auf die alte Badeanstalt zu.
Eine Rasenfläche, durch die sich hin und wieder Disteln quälten, wurde von
flachen Holzschuppen auf hölzernen Laufstegen umsäumt.
Das Holz roch zu jeder Jahreszeit nach Teer, nach immer brennender Sonne
und nach Desinfektionsmitteln aus den Toiletten.
Jetzt war die Badeanstalt noch geschlossen.
Im Sommer war es das Reich von Herrn Pantelkuh, der sich hier als
Aufsichtsperson, als Kartenverkäufer, als Kartenabreisser, als
Garderobeneinteiler und als Badeanstaltwitzeerzähler seinen Lebensunterhalt
verdiente.
Aber an dem Weg nach der Badeanstalt flussaufwärts, vor der
Eisenbahnbrücke verbreiterte sich das Gelände noch einmal wieder weit. Wiese
bedeckte den Platz bis an die kleiige Uferkante, die jäh in einen Schilfgürtel
abbrach.
Im Sommer wurde hier umsonst gebadet. Für die Badeanstalt musste man
Eintrittsgroschen bezahlen, die Herr Pantelkuh in eine alte Zigarrenkiste
sortierte.
Aber hier zwischen Badeanstalt und einer Eisenbahnbrücke mit großen runden
Bogen war man frei. Ein tieferer Graben, in dem das Wasser fast schon bis
unter die Arme ging , musste in einem schmalen Pfad gesäumt von Schilf
durchwatet werden.
Dann befand man sich im Stromschatten des ersten Brückenpfeilers Hier wurde
das Wasser wieder ganz flach und es war dadurch immer wohlig warm. Hier
lagen sie und ließen das Wasser an sich vorbei gleiten.
Martin stand nun am Rand des herbstlich kalten Flusses. Gräser und Schilf im
Wasser wurden von der Strömung gebogen. Das Wasser glitt dahin, von
kleinen Wirbeln leicht gekräuselt. Manchmal gab die gallertartige Oberfläche
auch einen Blick auf den mit dunkelgrünen Ranken bewachsenen Grund frei
Einmal, an einem frühen Nachmittag, als Martin als erster schon ganz früh an
der Badestelle sich in die Wiese gelegt hatte, kam hier ein Junge vorbei. Martin
hatte ihn noch nie gesehen. Er kann doch alle Jungen in der kleinen Stadt. Der
Junge blickte auf und sah Martin kurz an. Wie die großen Jungen hatte er sich
weit flussaufwärts Schilf gepflückt und zu einem Bündel zusammengebunden.
Auf diese Bündel konnte man sich setzen und treiben lassen. Martin hatte es
auch schon im flachen Wasser probiert. Es war herrlich.
So trieb er also vorbei ohne sich noch einmal umzusehen und entschwand
hinter den Schutzwänden der hölzernen Badestelle.
Martin war jetzt ganz alleine. Es war fast still bis auf das leise Schlürfen des

Flusses.
Martin nutzte heute die Gelegenheit und pinkelte in das Wasser. Kleine
Schaumblasen trieben erst langsam in der kleinen Bucht gegen den Strom,
drehten sich dann und reihten sich dann in das Strömen ein.
Als er endlich verspätet nach Hause kam und sich an das Verbot erinnernd
Schlimmes befürchtete, fand er zu Haus alle in feierlicher Aufregung. Sein
Kommen wurde nur einmal kurz aufblickend, eingespannt in große
Neuigkeiten beachtet.
Schon im Vorgarten soll er, der alte Briefträger es mit der linken Hand in die
Höhe gehalten dabei bedeutungsvoll wie zur Bestätigung genickt haben. Etwas
kriegsverletzt, nicht mehr verwendbar, hinkend überwandt er den Kiesweg. Mit
dem Ärmel seiner dunkelblauen, mehrfach geflickten Uniform hatte er über die
Adresse gewischt.
Es war ein Päckchen. Es war ein Feldpostpäckchen aus Russland. Das
Packpapier hielten kräftige faserige Bindfäden zusammen.
In der Küche redete aufgeregt eine angeregt erwartungsvolle Versammlung.
Man saß um einen Küchentisch.
Sein Großvater saß großzügig belehrend, er war ein Lehrer, am Küchentisch
vor dem Fenster, durch das man weit in die Felder schauen konnte.
Sein Großvater, der Lehrer, die Respektperson, der eigentlich nur einen großen
Fehler hatte, so sagte man, nämlich dass er sich immer nur von seiner Frau
verwöhnen ließ.
Am Herd stand diese Frau, Martins Großmutter, die auch nur einen Fehler
hatte, nämlich den, dass sie alle immer nur verwöhnen wollte, obwohl es ihr
manchmal schon zu viel wurde.
Am Tisch saß auch noch immer der Briefträger, vor sich hatte er ein kleines
Gläschen. Er freute sich über alles was er heute schon geleistet hatte. Neben
ihm am Tisch saß Herr Hauptmann. Er war ein wichtiger Mann. Ihm gehörte
das Haus, ein Sägewerk, eine Holzhandlung und überhaupt alles.
Darum achtet man auch auf sein Wort besonders.
Seine Anwesenheit auf dem Holzlagerplatz war gefürchtet. Meistens pfiff er ja
nur wenn er Kinder hinter einem Holzstapel erwischt hatte. Aber einmal,
Martin hatte sich in einem Holzstapel derart verhakt, dass er nicht schnell
genug fliehen konnte, eben dieses Mal hatte er Martin, als er mühsam sich aus
der Enge des Holzstapels befreit hatte, ein Ohr umgedreht. Es hatte zwar nicht
weh getan, aber es war trotzdem furchtbar.
Martins Mutter saß auch am Tisch und las immer wieder den Brief aus dem
Päckchen.
Während ganz vorne am Fenster sein Großvater saß, von dort aus konnte man
weit in die angrenzenden Wiesen und Wälder schauen, wirtschaftete die
Großmutter immer noch wie immer am Kohlenherd.

Oma.
“Bären sind Schädlinge. Sie reißen sogar Schafe und Kälber. Seien wir froh,
dass bei uns der letzte vor hundert Jahren geschossen wurde!“
“Warum sind eigentlich immer die anderen die Schädlinge?“
“Großvater Ludwig hat noch erzählt, wie sie nachts vor dem Garten die
brennenden Augen gesehen hatten. Wer abends im Dunkeln sein Wasser abtrat,
musste sich in Acht nehmen. Trude und das Mädchen kamen mal gelaufen, als
sei der Teufel hinter ihnen her. Ihre Hosen konnten sie drinnen erst wieder
anziehen. Das waren aber Wölfe gewesen. Ja aber, wo Wölfe ihr Unwesen
treiben, gibt es auch Bären.
Herr Hauptmann blickte kurz auf, als wüsste er nicht von wem das kam, das
mit den Schädlingen.
Martin setzte sich die Fellmütze auf. Etwas ungewöhnlich fühlte sie sich an.
Auch seiner kleinen Schwester wurde die Mütze aufgesetzt. Sie riss sie gleich
wieder vom Kopf. Aber die Mutter nahm die Mütze und versuchte es noch
einmal.
„Die sieht doof aus, wie eine Russenmütze“
Martin fand, dass sie damit gar nicht so doof aussah.
Er hätte natürlich lieber ein Skimütze gehabt, wie die großen Jungen sie fast
alle trugen.
“Mit den Mützen werdet ihr nicht frieren!“
Alle fühlten sich erleichtert froh und lachten sogar etwas.
“An der Front geht es schlecht! „ sagte plötzlich der Postbote. Es wurde still.
Alle hörten nur noch vor sich hin.
“Was wird bloß aus uns?“ hörte man wieder einmal die Oma vom Herd her.
Alle schienen genau zu wissen, was die Oma meinte.
“Der Fiehrer hat uns gefiehrt und der Fiehrer wird uns auch weiter fieren!“
belehrte der Postbote indem er sich erhob.
Auch jetzt wussten wieder alle ohne Erläuterung wie er es meinte, indem er
Worte eines Parteiredners aus einer Rede zum Führergeburtstag wiederholte.
Dieser konnte kein ü sprechen und auch sonst nicht.
“Ja wenn er nicht aussehen würde wie ein Jud?“
Herr Hauptmann blickte wieder auf, um anzudeuten, dass er nicht gemerkt
hatte von wem das kam. Er versuchte das Gespräch zu beenden und auf ein
anderes Thema zu lenken.
“Man redet ja von der Wunderwaffe!“ ließ nun Frau Schwertfeger sich hören
aber kaum jemand achtete darauf.
“Man muss vielleicht auf alles gefasst sein. Obwohl ich kaum glaube, dass die
Russen bis hierher kommen werden. Vorher sind längst die Amerikaner da.“
“Es soll überhaupt keiner kommen!“ erklärte nun der Großvater dickköpfig.
“Es gibt immerhin noch preußische Offiziere, die kann man nicht so leicht in
die Defensive drängen“
“Wie werden einen Anhänger überbauen. Den können wir später, wenn alles

vorüber ist als Wohnwagen gebrauchen. Wir werden ein Arche Noah bauen.
Wenn es schlimm kommt werden wir eine zeitlang in den Westen, zu den
Engländern und Amerikanern fliehen. Ich werde meine Leute mitnehmen
müssen. Aber Sie kommen auch mit uns! Ein paar Plätzesind noch... in dem
Wagen sollten noch frei sein.“ sagte fürsorglch Herr Hauptmann und er hielt
immer sein Wort.
Alle sahen ungläubig vor sich und waren froh, dass es soweit, wie Herr
Hauptmann befürchtete nie kommen würde. Das wäre ja dann ein richtiger
Weltuntergang.
Warum sollte man zu den Amerikanern fliehen überlegte Martin. Wenn er groß
sein wird, wollte er auf jeden Fall nach Amerika reisen, zu den Indianern und
so.
Die Erwachsenen wurden still.
Ahnten sie etwas von den Sorgen und dem großen Heimweh des Vaters in
Russland?
Heimweh nach zuhause nach ordentlichen Zeiten, nach sinnvollem Arbeiten.
Man konnte von diesem Heimweh manchmal etwas ablenken, indem man ein
Päckchen packte.
Die Dinge in dem Päckchen waren vom Munde abgespart. Der Schinken war
natürlich kein Bärenschinken.
„Wie kam ich nur darauf von Bärenschinken zu schreiben„ schrieb der Vater in
seinem nächsten Brief. Für lange Zeit war es sein letzter Brief.
Den Honig und das Stück Schinken hatte er gegen seine Zigarettenration
eingetauscht. Die Mützen hatte eine Frau in Russland genäht. Er hatte mit
aufgespartem Brot bezahlt.
Der Briefträger nahm seine Mütze, schob das Schnapsglas etwas weiter auf den
Tisch und rüstete sich zum Gehen. Frau Schwertfeger empfand nun auch, dass
sie gleich mitgehen müsste. Herr Hauptmann erhob sich darauf auch.
“Wir werden das schon machen. Wir werden uns nicht auf die Wunderwaffe
verlassen. Ich kann ja immer sagen, dass ich einen Wohnwagen für meine
Leute brauche“ sagte er wie zu sich selbst“
Als alle gegangen waren schnitt sich der Großvater noch ein kleines Stück
Bärenschinken ab.
“Ich verlass mich auf die Offiziere!“ sagte er trotzig auch fast nur zu sich
selbst.
Martins Mutter, die noch gar keinen Bärenschinken gegessen hatte, ließ sich
nun auch ein kleines Stückchen abschneiden. Sie steckte den Brief in die
Schürzentasche.
Dann drehte sie sich zu Martin um. „Wo warst du eigentlich so lange
geblieben?“ fragte sie und damit begann wieder das ganze Elend.
Nein es begann nicht, denn die Großmutter hatte inzwischen das Mittagessen
fertig. Der Tisch musste gedeckt werden. Zu Tisch wurde gerufen.
Das schmale, kriegsbedingte Essen; Stampfkartoffeln und eine Brennsauce
Zwiebelstipp genannt, trübte kaum die genüssliche Stimmun

Nach dem Essen trat Ruhe ein. Das Klappern der Teller in der Küche hatte
auch bald ein Ende. Die Nachmittagsruhe breitete sich aus, die niemand stören
durfte. Der Großvater lag in einem alten Schaukelstuhl, die Zeitung war ihm
auf die Knie gesunken. Der Schlaf unterbrach alle Sorgen. Eine marternde
Stille legte sich über alles andere. Martin saß ängstlich, geräuscharm auf dem
Boden und schob eine Blechlokomotive hin und her.
Er, ja die ganze Welt waren sich selbst überlassen.
Der Bärenschinken, das kleine Stück, welches noch übrig geblieben war, lag
auf den Untertassen im Küchenschrank.
Weit im Osten saß in einer stark geheizten Baracke, an einem Tisch, von dem
man in die weiße von schwarzen Flecken unterbrochene Steppe schauen
konnte, saß der Vater später und hielt einen Brief mit Feldpostnummer in den
Händen. Wie kam ich nur auf Bärenschinken? Warum habe ich das
geschrieben? Warum nur? Sein Blick verlor sich mit offenen Augen träumend
am Horizont. Warum alles nur?