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Veröffentlicht am 02.04.2014

Drei Kinder im Schnee.

Natürlich bin ich es, der hier kindlich unbeholfen sich durch die kleinen
Geschichten tappt. Ich natürlich, aber ich bin viel älter.
Den kleinen Fluss Radue, der sich zunächst die Wiesen abwärts durch eine
morastige Au schlängelt, habe ich als Überschrift der ganzen
Geschichtensammlung gewählt, weil seine Nähe immer wieder zu spüren sein
wird. Schon bald am Ende der kleinen Stadt vereinigte er sich mit einem
größeren Fluss, mit der Persante. Sie, die Persante habe ich noch gesehen, dort
wo sich das quirlig davonlaufende Wasser in einer anderen großen
Wasserfläche, in die See verliert.
Die Geschichten geben wahre Erinnerungen wieder.
Ich könnte natürlich in der Person >ich< schreiben; ein naseweises >ich<,
welches das Ende der Geschichten, den guten Ausgang schon kennt,
Ich müsste so tun, als würde ein Kind in seiner Unbedarftheit sich keine
Gedanken über die vor ihm liegende Zukunft machen.
Nein der kleine Junge, ich habe ihn Martin genannt, der in dieser Geschichte zu
bestehen versucht und besteht, sonst könnte ich nicht von ihm berichten, wäre
mit meinen heutigen Erfahrungen nicht mehr das Kind.
Also erzählt hier ein anderer von dem Kind Martin.
Die folgende Geschichte erzählt von Flucht. Der Inhalt der Geschichte ist nicht
erfunden.
Der ganze deutsche Osten befand sich (viel zu spät) auf der Flucht. Russische
Armeen waren schon längst durchgebrochen zur Oder hin und hatten Fliehende
überholt.
Baumeister Hoffmann hatte für seine Arbeiter einen Wagen mit einem kleinen
Haus überbaut; eine Arche Noah. Er hatte für alle gesorgt. So war das damals.
Auch für Martins Großvater mit Frau, Tochter und Enkel war noch Platz für
Gepäck und Kinder im Wagen. Die Erwachsenen mussten nebenher laufen. So
wollte man Kolberg erreichen und über die Ostsee fliehen.
Den Wagen zogen zwei Ochsen. Pferde gab es keine mehr.
Sie kamen nicht weit. Die Bahnschranke war geschlossen Es war also alles
noch in Ordnung; es fuhr noch ein Zug. Nach einer Weile kam er auch; ein
Güterzug. Auf den offenen Wagen saßen aber Leute, auch Kinder. Mit den
Händen hielten sie sich die Ohren zu, weil es so kalt war.
„Die sitzen ja auf offenen Güterwagen!“
Martin war nun doch froh, dass er seine Fellmütze anziehen musste. Die
Ohrenklappen waren sogar heruntergeklappt und unten zugebunden, mit einem
Band aus Leder, das nach Stall schmeckte.
Der Zug fuhr vorüber, die Schranke drehte sich auf. Die Fahrt ging weiter.
„Die Radue ist zugefroren!“ hörte Martin von hinten
Es schneite und der Wind trieb weiße Fahnen über die Straße.
Ab und zu kam jemand von den Erwachsenen in den Wagen zum Aufwärmen.
Ab und zu wurde auch ein Nachttopf an Martin vorbei gereicht.
Die Kinder mussten dann noch weiter zusammenrücken. An einen Blick nach
draußen war nun überhaupt nicht mehr zu denken.

Aber bei einer Entleerung des Topfes kam Martin dann doch wieder dicht an
den Kutschersitz heran. Er konnte wieder über die Schultern des Kutschers
rausschauen.
Draußen wehte der Wind immer noch feine Schneefahnen über die Straße. Im
Straßengraben lag ganz schief ein Auto. Ein Dreirad, es war der
Gemüsewagen. Es war der Wagen von dem Gemüsehändler. Der
Gemüsehändler und seine Frau, beide standen neben ihrem umgekippten
Wagen, vor ein paar Sachen, die in den Schnee gekippt ausgebreitet im Graben
lagen.
Sie schauten kurz auf, als wüssten sie nicht wie es weitergehen sollte.
Tauende Schneetropfen liefen vom Kinn der Frau.
Wieder rutschte ein Ochse aus und wälzte sich zappelnd auf der Straße. Der
Kutscher ging jetzt auch mit der Leine in der Hand neben dem Wagen her.
Martin konnte nun gut alles sehen.
Ab und zu versuchten Wehrmachtwagen zu überholen. Sie hatten es sehr eilig.
Einmal wurde an der Außenwand des Wagens furchtbar gerissen.
Martin schlief ein und erwachte aus einem wirren Traum
Der Wagen stand und eine Frau wollte nach außen drängen.
“Ich muss mal!“
Sie musste wieder zurück.
“Wir kommen nicht weiter, die Russen sind durch!“
Der Wagen stand auf einem Schulhof. Martin sah seine Mutter und seinen
Großvater, sie kamen zurück aus dem Schulhaus.
“Nun durften sie doch alle aussteigen.
In den beiden Schulklassen wurden die Schulbänke in einer Ecke zusammen
geschoben.
Von einer Scheune holten sich alle etwas Stroh. In die Schulklassen wurde
Stroh gebracht. Darin sollten sie heute schlafen. Martin und Hedwig fanden das
so aufregend, dass sie sofort schlafen gehen wollten, obwohl es erst
nachmittags war.
Ihre Mutter ließ sie aber nicht alleine. Sie mussten immer ganz dicht bei ihr
bleiben. Auch zum Klo mussten sie beide mit. Als sie auf der Treppe vor der

Tür standen, kamen Leute angelaufen. Ja sie liefen. Ein Junge etwas älter als
Martin hatte sich eine gerollte Decke schräg über die Brust gebunden, wie ein
richtiger Soldat.
Sie liefen vorbei.
“Wir kriegen Artilleriebeschuss! Laufen Sie in den Wald!“ riefen sie.
Sie liefen vorbei in den Wald. Jetzt erst fiel Martin ein dumpfes Grollen auf. Es
klang wie Gewitter, aber der Donner rollte nicht so lang.
Das also war Artilleriebeschuss.
„Sollten sie tatsächlich in den Wald laufen?“
Beide Kinder warteten vor dem Schulklo auf ihre Mutter. Sie hatten ihre
Fellmützen immer noch auf.
Am nächsten morgen war alles ruhig, auch der Donner hatte sich gelegt. Ja
man konnte sogar etwas vor die Tür gehen und sich umschauen. Niemand
verbot es. Wo waren nur die geblieben, die in den Wald gelaufen waren?
Als Martin und seine Schwester wieder zurückkamen, war große Aufregung in
den mit Stroh belegten Schulklassen.
Die Russen waren da gewesen.
“Du hast deinen Ring ja sofort hingehalten. Nun ist er weg.!“
“Meine Uhr ist auch perdü!“ „“Eigentlich waren sie sogar höflich gewesen!“
Martins Opa wühlte im Stroh. Er hatte seinen Ehering einfach fallen gelassen.
Nun musste er lange suchen.
“Ich hab gesagt, Kamerad hat schon!“
Martin ärgerte sich, dass er etwas verpasst hatte. Erleichtert sah er beide
Fellmützen auf dem Fensterbrett. Wer hatte die schon haben wollen? Er fühlte
die allgemeine Erleichterung. Das also war der Untergang. Das also war die
Katastrophe, vor der man so gewarnt hatte.
Es kamen weitere Russen. Einige fragten auch noch nach Uri.
Einmal kamen sogar zwei Russinnen in Uniform mit.
“Weuna kaputt!“ sagten sie und;
“Zurück nakch haus!“
Am nächsten Tag ging es tatsächlich zurück nach hause.
Im Norden hatte ein ganz ferner Donner wieder zugenommen.
„Das ist Kolberg!“ hörte Martin. Das Schneetreiben nahm auch wider zu. Es
war kalt. Alle Erwachsenen gingen nun neben dem Wagen. Die Ochsen
rutschten wieder und wieder aus.
Einmal konnte Martin raus sehen. Sie fuhren gerade an einem Friedhof vorbei.
Zwei Kinderwagen standen dort neben frisch auf gegrabener Erde.
Am späten Nachmittag merkte man, dass es nicht bis nach hause an einem Tag
zu schaffen war.
Es schneite. Die Schneeflocken wirbelten vom Sturm durcheinander. Die
Straße war glatt geworden. Wieder rutschte ein Ochse aus und wie eine ganze
Welt legte er sich auf die Seite uns strampelte mit seinen Beinen sinnlos auf
der Straße.
Plötzlich hielt auch noch der Wagen an. Martin konnte einen russischen

Soldaten mit einem ganz roten Gesicht erkennen. Er hatte eine Fellmütze, eine
richtige Russenmütze auf. Die Ohrenklappe waren hochgebunden, über der
Stirn hatte sie einen kleinen roten Stern..
Er stand vor den Ochsen und hielt sie fest. In der Hand hielt er eine richtige
Pistole
Drei Kinder wurden in den Wagen nacheinander dem Kutscher heraufgereicht.
Ein sehr kleines Kind in eine hellblaue Decke gewickelt, ein Mädchen mit
einem roten Tuch um dem Kopf und ein Junge so alt wie Martin.
Über den Schultern des Jungen hing eine Anzugjacke. Sie war ihm viel zu
groß.
Keiner wagte ein Wort zu sagen. Das Mädchen weinte still vor sich hin.
Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.
Der Russe hatte den Wagen angehalten, mit der Pistole gedroht. Dann hatte er
befohlen, dass die Kinder in den Wagen gehoben werden.
In dem Wagen saß sowieso kaum noch jemand bis auf die Kinder und jetzt
diese Kinder auch, wo kamen die Kinder her?
Der ganze Treck übernachtete in leerstehenden Häusern an der Straße. Zu
Essen gab es nichts.
Am nächsten morgen wurden schon bald das ehemalige Zuhause in der kleinen
Stadt erreicht.
Auch diese Häuser standen leer.
„Unsere Häuser stehen ja noch!“
“Im Flur brennt ja Licht!“
Aber irgend etwas war doch anders. Martin konnte es sich noch nicht erklären.
Aber er würde es schon noch herausfinden.
Vor dem Hause lagen riesige Geschosshülsen. Das war Munition für ein
Geschütz, das auf der Straße stand. Die Munition war zum Teil noch in Kisten
verpackt. Einige Kisten waren aber auch schon aufgebrochen.
Auch wenn sie vor dem Haus lag, gab sie der ganzen Situation etwas
Gefährliches. Niemand wusste wie man auf so etwas reagiert.
“Ihr bleibt erst einmal hier!“ Kann man so etwas anfassen?
Martins Schwester gehorchte auch, aber für Martin war die Versuchung doch
zu groß. Er schlich sich hinter den Erwachsenen her. Im Treppenhaus lagen
Betten, rote Betten unbezogen. Einige Federn wirbelten bei jedem Luftzug auf.
Nichts war mehr ordentlich.
Oben hörte er die Erwachsenen. Sie versuchten schon aufzuräumen. Er ging
vorsichtig in die Wohnung im Erdgeschoss. Niemand war dort. Die Tür stand
offen. Kartoffeln und Blechdosen lagen im Flur verstreut. Es war so leise, dass
Martin es in seinem Kopf klopfen hörte. Plötzlich sprang etwas vor ihm auf
und gerade konnte er noch sehen, wie es davon flitzte. Erstarren im Schreck
und Erleichterung bei der Erkenntnis waren eins. Wie kamen die hier her? Wo
kamen sie her. Im nächsten Augenblick sauste ein zweites Kaninchen davon.
Martin wurde wieder vertrauter mit seiner Umgebung bis er wieder erstarrte.
Durch die halb offene Tür zu einem Raum sah er Füße von jemand, der dort
lag. Schon wollte er Hals über Kopf davon stürzen, aber die Starrheit mit der
die Füße dort lagen, ließ ihn verhalten. Vorsichtig öffnete er die Tür etwas

weiter, sie knarrte leise. Dort lag ein Mann, ein Soldat. Martin fiel sofort auf,
dass sein Gesicht ganz weiß war. Die Augen waren wie im Schlaf geschlossen,
der Mund etwas geöffnet, so dass man die Zähne etwas sah.
Eine innere Stimme meldete sich aus einem uralten Gedächtnis; >der Mann,
der Soldat ist tot.< sagte es.
Martin hatte trotzdem keine Angst. Er fühlte sich dazu gehörig. Er spürte ganz
genau, das war ein Toter. So sah also ein toter Soldat aus. So etwas durfte man
nicht sehen. Das war es, was sie als Kinder auf keinen Fall sehen durften. Als
seine Kolberger Oma gestorben war, fuhren sie nicht mit zur Beerdigung. Der
Tod war etwas Schreckliches, das man wie manches andere vor den Kindern
verbarg.
Jetzt sah er erst, dass die Uniformjacke des Soldaten aufgeknöpft war und das
auf der Seite etwas Dunkelrotes lag. Es war vielleicht Blut.
Es war die Überlegenheit dieses Toten, die Martin ganz ruhig werden ließ.
Hätte der Tote etwas sagen können, dann dies „Ich bin man tohot!“ Er wagte
sich nicht zu bewegen. In dem er sich ganz leise und langsam zurückzog,
knarrte doch die Diele.
Die Erwachsenen kamen nun mit hektischen Schritten die Treppe herunter. Sie
liefen an der offenen Wohnungstür vorbei und stürzten geradezu nach draußen.
“Wo ist Martin?” hörte er rufen.
Im oberen Stockwerk hatte man noch einen toten Soldaten gefunden. Die
Erwachsenen hatten eine furchtbare Angst vor Toten. Man traute sich nicht
mehr in das Haus herein.
Die Erwachsenen suchten jetzt im Nachbarhaus. Dort wohnte Herr Hoffmann.
Nachdem man es auch vorsichtig durchsucht hatte und nichts Furcht
erregendes gefunden hatte, wurde beschlossen in diesem Haus zusammen
zubleiben. Das Haus hatte eine große Diele.
Auf dem Fußboden der Diele richtete jeder sich ein. Zwischen die Lager
wurden Koffer zur Abgrenzung gestellt.
Als es dunkel wurde traute sich niemand mehr nach draußen. Es waren auch
noch einige Familien dazugekommen. Der Kaufmann aus dem Ort mit Frau
und Tochter und ganz fremde Leute ohne Kinder.
Martin schmiegte sich an die Seite eines Nachbarkoffers, wühlte sich in
Decken und Mäntel und langsam in einem traumlosen Schlaf versinkend
lauschte er den ängstlichen Berichten der Erwachsenen.
Am nächsten morgen wurde man mutiger. Natürlich ohne Kinder, denn die
durften so etwas nicht sehen, schaffte man die Toten aus dem Nachbarhaus.
Martin, seine Schwester und die vier anderen Kinder sahen durch das große
Dielenfenster des Nachbarhauses, wie Pakete in Decken eingehüllt in den
Garten getragen wurde. Dort grub jemand.
Langsam, so wie sich auch das Wetter beruhigte, trauten sich viele der
Schlafgemeinschaft aus der Diele wieder in ihre eigenen Häuser und

Wohnungen. Sie zogen sich zurück.
Bevor sich die Angstgemeinschaft ganz aufgelöst hatte, wurde sie noch einmal
heimgesucht. Morgens stand plötzlich ein Lastwagen vor dem Haus. Soldaten
kletterten heraus, keine Landser mehr; russische Soldaten, sie stürmten
geradezu heraus. Sie drangen in das Haus ein.
Mit Pistolen in der Hand hantierten sie unmissverständlich.
Alle, die im Haus sich aufhielten, mussten in die Diele und sich dort still
verhalten. In anderen Räumen wurde das ganze Gepäck durchsucht. Alle
Koffer wurden geöffnet, ausgeschüttet. Zwei Photoapparate wurden
eingesammelt, auch nach Uhren, Ringen und anderem Schmuck wurde mit der
Waffe in der Hand gesucht, um es in Taschen abzutransportieren.
Es gab kaum noch etwas zu holen.
Martin hatte gehört, dass nachts gegraben wurde.
Später erfuhr er von dem Schmuck, der vergraben worden war, auf dem
Grundstück, an einer ungünstigen Stelle, denn aus den Häusern mussten später
doch alle raus. Niemand kam mehr auf die Grundstücke. Niemand konnte
nachts auf fremden Grundstücken wieder ausgraben. Kluge vergruben auf dem
Friedhof, dort konnte man immer graben. Aber dazu waren die Erwachsenen
viel zu unerfahren. Wer erlebt auch in seinem Leben einen richtigen Krieg.
Als es nichts sonderlich mehr zu holen gab, wurden die Soldaten böse. Sie
drohten wieder mit Pistolen. Herr Hoffmann stellte sich vor sie, öffnete sein
Jacke und schrie „Schießt doch!“ Es schoss aber niemand. Sie begannen Stühle
und Tische auf das Auto zu laden. Aus den Sesseln wurden Lederflicken
herausgeschnitten. Dann wurde der Keller genau durchsucht. Man hörte
klopfen. „Sie klopfen die Wände ab, um herauszukriegen, ob etwas
eingemauert wurde.“
Ein Soldat kam in den Wintergarten, in dem die Kinder auf Koffern und
Taschen saßen. Kinder raus! Auch diese Koffer wurden geöffnet und
ausgeschüttet. Es kam nur Wäsche heraus.
Dann nahm ein Soldat eine Schultasche in die Hand. Es war Martins
Schultasche. Die Mutter hatte sie mit warmen Sachen, Strümpfen, Pullover und
Schlafanzug voll gestopft. Außen hing ein Becher, damit man immer trinken
konnte. Darauf hatte Martin bestanden. Der Soldat nahm die Tasche und
schüttete sie aus. Es flatterten Bücher heraus. Ein Taschenatlas für
Eisenbahnreisende, ein Buch mit vielen Photos, und überhaupt Bilderbücher.
Martin sah auf die Bücher auf der Erde, auch seine Mutter sah es. Niemand
sagte ein Wort. Der Soldat stockte einen Augenblick. Dann warf er die Tasche
zu den Büchern und ging.
Martin war stolz. Seinen Schultasche wollte man plündern.
Der Stolz würde vergehen, wenn die Mutter nach den von ihr eingepackten
Sachen fragen würde.
Doch sie fragte gar nicht. Nachdem der Soldat aus dem Wintergarten
verschwand und sich unsichtbar in irgendeinem Nachbarraum um tat, war kein
Soldat in der unmittelbaren Nähe. Seine Mutter nahm Martin an die Hand und
bewegte sich mit ihm durch die Glastür in den Garten. Nach einigen sehr lang
vorkommenden Schritten erreichten sie die Gartentür zur Straße.
Sie liefen dann in Richtung Stadt.

Im Rathaus sollte es eine russische Kommandantur geben. Plündern war
verboten, so hieß es inzwischen.
Im Ratshausflur stand ein Soldat. Er verstand nichts. Eine Tür ging auf, ein
sehr junger Soldat kam heraus. Es war der Kommandant.
Er hörte sich das aufgeregte Beschreiben der Mutter an. Ob er verstand, konnte
man nicht erkennen. Er kam mit heraus und ging unschlüssig mit.
In diesem Augenblick kam ein Lastauto langsam die Straße heruntergefahren.
Es waren die Soldaten. Hinten sah man hoch aufgetürmte Möbel Stühle.
Auch den Küchenherd hatten sie noch mit genommen.
“Das sind sie!“ .
Der Kommandant trat an die Straße und winkte mit dem Arm. Das Auto fuhr
unberührt vorüber und verschwand in der Straße, die zur Flussbrücke führte.
Der Kommandant stand einen Augenblick da als wüsste er nicht was er machen
sollte. Dann wandte er sich um und ging schnell wieder in Richtung Rathaus.
Gesprochen hat er kein Wort.
Die Mutter nahm Martin mit, weil sie alleine Angst hatte und weil sie nicht
wollte, dass er verlassen herumirren sollte, wenn ihr etwas passieren würde.
Als sie wieder zum Haus kamen, waren alle dabei ihre Koffer wieder
zusammen zupacken. Es wurde auch ein bisschen gelacht, wenn festgestellt
wurde, dass Unterhosen fehlten und ein Beutel mit Silberbestecken nicht.
entdeckt worden war
Da standen die drei Kinder immer noch. Bisher waren sie zwar aufgefallen,
aber man hatte sie vor sich her geschoben. Sie gehörten irgendwie allen. Essen
wurde sowieso für alle gemeinsam gekocht. Man holte sich aus den
verlassenen Häusern. Es gab noch genug Essbares zu finden. Kartoffeln gab
es . Aus Mehl konnten Suppen gekocht werden. Man hielt zusammen. Drei
Kinder mehr waren nur mit leichter Besorgnis aufgefallen. Wo sollen sie
bleiben?
Als sich aber nun langsam die zusammengewürfelte Gemeinschaft wieder löste
und jede Familie versuchte irgendwo wieder alles wie bisher werden zulassen,
blieben sie die Kinder übrig.
“Wo ist eure Mutter?“ wurden sie immer wieder gefragt. Der Junge sprach sehr
wenig in gebrochenem Deutsch. Das jüngere Mädchen sagte gar nichts, weinte
nur, wenn es wieder auf das Klo musste. Beim Windeln des Kleinkindes
wechselte man sich ab.
“Ist gegangen nach Speck!“ antwortete der Junge.
“Wollte sie Speck holen?“
Der Junge schüttelte den Kopf, als ob er nicht verstehen würde. Gab es einen
Ort, der Speck hieß?
Die Mutter von Martin war früher einmal Krankenschwester gewesen. Sie hatte
immer eine große Tasche voller Arzneien. Auch eine Flasche Schnaps war
dabei. Weil sie immer sorgfältig hütete, gab es manchmal Streit insbesondere
mit den Männern. Die Mutter wusste bei einigen Krankheiten Bescheid. Sie
verteilte Tabletten, wenn jemand Durchfall hatte. Oder verband einen Fuß, bei
dem sich die Blasen vom weiten Laufen entzündet hatten.

Nun blieben die Kinder bei ihr. Sie war ja zuständig. Das war bequem.
Wer war für drei Kinder zuständig? Wer war für die anderen zuständig.
Wie konnte man die Angst vor der Zukunft loswerden. Weiter als zwei Tage
war kaum vorauszudenken. Hier ging es um Leben oder Verhungern.
Die Zukunft sah mit fünf Kindern schrecklich aus.
„Mein Man hat mir verboten, Kinder zu nehmen!“ war zu hören.
„Ich kann nicht drei Kinder nehmen, die noch nicht einmal richtig sprechen.
Das ganz kleine Mädchen würde ich nehmen!“ Die Kinder trennen?
Schließlich hieß es: “Wir müssen die Mutter suchen!“ hieß es verzagt. Der
Junge verstand, aber in seinem Gesicht drückte sich ungläubige Leere aus. Er
erwartete nichts mehr. Von niemand erwartete er mehr etwas.
Das Kleinkind in Windeln kam in einen Handwagen. So ging es am nächsten
Morgen los, hin zu der Stelle, wo der russische Soldat die Kinder in den Wagen
geschoben hatte. Der Winter war vorüber. Der Frühling kündigte sich an. Die
Sonne schien.
Man könnte sie ja irgendwo stehen lassen und dann einfach weglaufen. Martin
wunderte sich über seine Gedanken. Er dachte an Hänsel und Gretel. Waren die
Eltern in dem Märchen eigentlich schlechte Eltern? Ob seine Mutter auch so
dachte.
Martin musste wie immer mit.
Sie kamen an mehreren einsamen Gehöften vorbei. Der Junge wurde einmal
ganz aufgeregt. Er lief in ein Haus herein. Es stand leer. Unschlüssig, ratlos lief
er durch einige Räume voller Stroh und Möbelresten. Dann gab er es auf.
Sie kamen zu einem großen Gutshof.
Das Gutshaus stand verlassen. Die Ställe schienen leer zu stehen. Auf einer
Weide nahe dem Hof brüllten viele Kühe. Niemand hatte sie gemolken.
“Die wollen gemolken werden!“
Eine Frau war hatte sich ihnen angeschlossen. Sie hatten hier übernachtet. Sie
hoffte noch einige zurückgelassene Sachen wiederzufinden.
Martins Mutter setzte sich auf die Gutshaustreppe und starrte in die Leere.
Martin wusste inzwischen, was das zu bedeuten hatte. Sie wusste nicht mehr
was sie machen soll.
Die drei Kinder standen ängstlich am Handwagen als wüssten sie, dass sie
niemand hatten, der sie anfassen und mit sich nehmen wollte.
Beklommen schlich sich Martin leise davon, um ein bisschen zu erkunden.
Hinter dem Haus entdeckte er einen Drahtkäfig, einen Hundezwinger. In dem
Zwinger lag ein großer schwarzer Wolfshund auf der Seite reglos. Aus seiner
Schnauze war ein bisschen Blut gelaufen.
Martin machte kehrt. Die Kühe brüllten-
“Wir müssen zurück!“ „Wir müssen es hinter uns bringen!“ hörte Martin „Was
hinter uns bringen?“
Doch es kam Rettung.
Die Rettung kam von ferne noch kaum zu erkennen, aber näher heran war es
ein Gespann, ein Pferdewagen. Zwei Pferde wurden von zwei jungen Männern

gelenkt. Vorne am Wagen wehte eine rote Fahne mit einem weißen Kreuz.
Hinten am Wagen war auch eine weiße Fahne mit einem roten Kreuz
angenagelt.
Ja es waren Schweizer. Junge Leute aus einem glücklichen Land, in dem es
keinen Krieg gab.
Sie waren in ein Land gekommen, das ihre Hilfe brauchte.
Sie sammelten Verwundete auf. So etwas gibt es manchmal.
Vor der Gutshaustreppe hielten sie an. In dem oberen Geschoss des Gutshauses
wurde es lebendig. Eine Frau mit verbundenen Beinen und Armen wurde
herunter getragen und auf den Wagen geladen.
“Diese Kinder suchen ihre Mutter!“ hörte Martin seine Mutter sagen. „Wer, der
sucht seine Mutter?“ sie wiesen auf Martin. Martin merkte, dass es vielleicht
um das Ganze ging und drängt sich zu seiner Mutter.
“Nein die dort!“ „Bitte nehmen sie die Kinder mit“
Einen Augenblick zögerten die beiden jungen Männer.
“Das sind Ihre Kinder?“
“Nein wir haben sie aufgegriffen! Dies hier ist mein Junge und ein Mädchen
habe ich auch noch!“
Ein junger Mann begann das Kleinkind vorsichtig mit seinem Deckenpaket aus
dem Handwagen zu heben und legte das Bündel hinter den Kutschersitz. Der
Junge und das Mädchen folgten unaufgefordert und nahmen auf dem Wagen
Platz. Sie hatten längst die Gelegenheit begriffen. Ganz dicht schmiegten sie
sich hinten an den Kutschersitz, ihre neue Nische.
“Sollen wir sie auch mitnehmen?“ und schon wollten sie die Mutter auch
aufladen. Da hielt Martin sich aber an ihrem Mantel fest und ließ nicht los.
Die Männer lachten. Sie konnten scherzen. Sie kamen aus einem Land in dem
hohe Berge, Schokolade und Kühe Scherze erlaubten. Sie würden gewiss in
dieses Land fahren.
Noch lange nach dem sich der Wagen mit seinen beiden Fahnen immer kleiner
werdend, schließlich ganz entschwunden war, blieb seine Mutter sitzen.
Die andere Frau kam mit Kleidern über dem Arm.
“Wir müssen zurück, wir müssen nach hause zu den Anderen.“