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Veröffentlicht am 02.04.2014

Der Apfelkuchen.

Wenn etwas Besonderes bevorstand, machte sich seine Mutter fein.
Eine kleine Reise oder so etwas.
Martins Abneigung gegen das Feinmachen aber auch die Erwartung
des Bevorstehenden hielten sich so in der Waage.
Das war immer dann, wenn sie sich besonders zurecht machte; wenn
sie sich ein weißes Kostüm mit einem weißen Hut anzog. Sie roch dann
nach Parfum. Sie war ihm fremd, schon wegen des Parfums. Sie hatte
dann auch meistens wenig Geduld. Schon beim Anziehen drängelte sie
diesmal an ihm herum.
„Beeil dich, Trödel nicht so herum. Um zehn Uhr fährt der Zug“
Trotz der Eile musste er noch einmal zurück in das Badezimmer, weil er
so ehrlich war und gestanden hatte, dass er sich die Zähne nicht
geputzt hatte. Dabei schmeckte der Stein, auf dem man die Zahnbürste
einreiben musste so eigenartig nach Blech. Anschließend wurde um so
mehr gedrängelt. Seine Schwester Hedwig hatte natürlich alles richtig
gemacht, wie immer.
Es ging nach Kolberg einer größeren Stad einem Bad an der Ostsee.
Seine Mutter fuhr mit ihren beiden Kindern hin und wieder nach
Kolberg. Dort war die Ostsee. Man konnte am Strand sitzen und mit
dem Wasser spielen. Es war immer wunderschön.
Dieses Mal blieb Martin die kleine Reise noch lange in Erinnerung.
Das fing damit an, dass kein Badezeug eingepackt wurde. Die
Schaufeln für den Strand hatte Martin dann auch prompt vergessen.
Als sie schon im Zug saßen, und der Zug gerade abfahren sollte kam
Horst Pressler gelaufen. Horst war viel älter als Martin. Er trug schon
eine Uniform mit einem richtigen Messer. Er hielt kurz bei dem
Bahnbeamten, der die Karten abknipste inne und indem auf sie am
Zugfenster deutete erklärte er irgend etwas. Der Schalterbeamte nickte
und Horst kam zum Fenster gelaufen und winkte. Martins Mutter zog
das Fenster herunter.
„Sie sollen allen in Kolberg mitteilen; Ihr Schwager aus Berlin ist tot.
Von den Bomben!“
„Wer hat das gesagt?“ rief Martins Mutter aus dem Fenster. Horst wollte
noch etwas sagen, aber der Zug fuhr los. Martin hatte den Eindruck,
dass seine Mutter nicht recht verstanden hatte.
Der Zug wackelte durch die Landschaft. Die Mutter blickte sehr ernst
aus dem Fenster zu den Telegraphendrähten, die immer wieder bis zu
den Bäumen herunterfielen und dann zum nächsten Mast mit den
weißen Puppen wieder hochfuhren.
Martin merkte, dass seine Mutter nicht nur traurig war. Es war nicht die
übliche Traurigkeit, die er ja schon kannte. Er hatte das Gefühl, dass
sie nicht verstanden hatte. Horts hatte auch zu schnell gesprochen.
Martin überlegte was ein Schwager ist. Er fragte dann auch einmal.
„Was ist ein Schwager?“
„Onkel Hanni!“ antwortete seine Mutter - mehr nicht. Der Zug wackelte
wieder.
Martin überlegte, wie Onkel Hanni aussah. Ein Mann in einer Uniform.

Eine Tüte Bonbons hatte er mit gebracht. Bevor er sie ihnen gab
mussten sie wie Soldaten stramm stehen und exerzieren und so.
War das Onkel Hanni?
“Wohnte Onkel Hanni in Tietzow?“ irgendwie wollte Martin durch seine
Fragen die bleierne Schweigsamkeit mildern. Den Ortsnamen Tietzow
hatte er aufgeschnappt, als etwas geheimnisvoll wunderbares.
“Nein, in Tietzow haben Deine Großeltern gewohnt und ich als ich klein
war“
“Warum wohnen wir heute nicht mehr?“
“Ich musste schon in Deinem Alter fort, weil es dort keine höhere
Schule gab.“
“Und Deine Eltern wohnen die denn noch dort?“
Das sind doch Deine Großeltern, bei denen wir jetzt wohnen. Du fragst
aber auch!“
“Warum sind denn die Großeltern von dort weggezogen?“
“Es gab kein elektrisches Licht dort und die Schule war nur ganz klein!“
“Aber Du hättest doch wieder dort wohnen können?“
“Ich wollte da nicht mehr bleiben. Ich wollte Krankenschwester werden.
Das kann man nur in einer großen Stadt lernen.“
Christians Augen glitten wieder an den auf und abfahrenden
Telephondrähten entlang. Ab und zu hielt der Zug. Nach einem Pfiff
ging es wieder wackelnd weiter. Die Telephondrähte kamen wieder; auf
und ab.
Seine Schwester Hedwig sagte in der ganzen Zeit gar nichts. Auch sie
fühlte wohl, dass etwas sehr Schlimmes passiert wahr.
In Kolberg ging seine Mutter zu dem Haus, in dem früher seine
Kolberger Oma gewohnt hatte. Sie klingelte an einer Wohnungstür.
Früher hatten sie hier manchmal auch übernachtet.
In der Wohnung wohnten nun fremde Leute. Martin kannte sie nicht.
Ungläubig gab seine Mutter die Nachricht weiter, die immer noch nicht
in ganzer Tiefe aufgenommen war.
Sie wurden gar nicht hereingebeten.
Eine Frau wollte tapfer sein und nicht weinen, aber Martin sah, dass sie
doch weinte hinter einer schnell vorgehaltenen Hand.
Das Badeleben dieser Stadt nieselte leicht vor sich hin. Sie wurden
schweigsam durch die Straßen gezogen. Als seine Schwester einmal
fragte, wohin sie gingen, hat ihre Mutter überhaupt nicht geantwortet.
Am Strand standen nur noch wenige Strandkörbe. In einem saßen
sogar noch Leute. Ein Soldat in Uniform war auch dabei. Landser
nannte man Männer in Uniform. Das hörte sich so urlaubsartig
gemütlich an.
Sie gingen auf der Promenade am Strand auf und ab. Sie gingen nicht
einmal bis an das Wasser heran. Warum auch, die Schaufeln lagen ja
zuhause.
Der Laden, in dem es Strandbälle und Schaufel zu kaufen gab, war

geschlossen. Die Fenster waren mit Brettern zugestellt.
Auch die Strandhalle, in der es immer Malzmilch gegeben hatte war
geschlossen. Innen standen zusammengeklappt Gartenstühle und
Tische.
Irgendwann kurz entschlossen ging die Mutter mit Martin und seiner
Schwester in das Strandschloss.
Das Strandschloss glänzte mit seinen weissen Türmchen immer noch
vor Vornehmheit.
Martin fand es zum ersten mal richtig passend, dass seine Mutter sich
anders angezogen hatte, auch wenn sie ihm fremd war.
Man hörte einen Geiger und Klavierspieler. Als die Musik aufhörte,
klatschten ein paar Leute, nicht alle. Es wurde leise gesprochen. Dann
und wann lachte aber einmal eine Frau laut. Auf dem Fußboden lagen
feine Teppiche. Der Raum strahlte voller Eleganz, wie die Frau auf der
IMI-Reklame an den Hauswänden
Martin fühlte sich überhaupt nicht wohl.
Sie setzten sich an einem größeren Tisch. Ob es etwas ohne Marken
gab fragte seine Mutter den Ober, einen fein gekleideten Herrn. Es gab!
Martins Mutter bestellte für jeden ein Glas Apfelsaft und ein Stück
Apfelkuchen. Das gab es tatsächlich noch ohne Marken. Die feinen
Leute hatten es doch besser. Es war doch gut dass Martins Mutter sich
fein angezogen hatte.
Martin nippte an seinem Apfelsaft und biss ein Stück Apfelkuchen ab.
Am Tisch saß noch ein Herr in einem feinen grauen Anzug.
Martin biss wieder ein ganz kleines Stückchen vom Apfelkuchen ab.
Die Mutter hatte nur eine Tasse Kaffee. Sie saß gedankenverloren am
Tisch.
Weder Martin noch Hedwig konnten sich richtig über ihren Kuchen
freuen.
„Ich muss noch eine Besorgung machen. Ich lass euch hier alleine
sitzen. Ihr wartet, bis ich wiederkomme!“
Allein mit dem fremden Herrn am Tisch sank die Stimmung auf einen
noch tieferen Punkt.
Martin wagte nur ganz wenig aufzublicken. Warum lächelte der Herr
etwas mitleidig. Da sah Martin auch schon die Bescherung. Seine
Schwester Hedwig, die sonst heute alles brav richtig gemacht hatte, sie
übergab sich über ihre Stuhllehne, ja sie kotzte auf das vornehme
Parkett. Auch auf dem grauen Teppich war etwas gelandet. Martin
erschauerte. Er stand ganz vorsichtig auf, nahm seine Schwester, die in
sich zusammengesunken war an die Hand. Einen Augenblick überlegte
er, ob er den Kuchen mitnehmen sollte. Aber er wagte nicht den feinen
Herren in die Augen zu blicken, denn dessen Aufmunterung hätte er
dazu gebraucht.
Der Gang zur großen Glastür dauerte eine Ewigkeit. Jeden Augenblick
erwartete Martin die Katastrophe. Was eigentlich passieren würde,
wenn jemand außer dem feinen grauen Mann etwas merken würde,
wagte er sich gar nicht auszudenken.
Die Tür schloss sich. Während sie sich die breite Treppe zur Straße
herunter tasteten, sahen sie ihre Mutter am anderen Straßenende
entgegenkommen.


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